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Uzbekistan 8 |
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„Gleichheit vor der Gesetzlosigkeit“ Zur Lage der bürgerlichen Rechte in Uzbekistan Von Muhammad Solih[1]
Im Jahre 1993 nahm das uzbekische Parlament das Grundgesetz an - die Verfassung der Republik Uzbekistan. Präsident Karimov wollte, daß die Verfassung demokratisch aussehe, und vor der Verabschiedung wurde ihr Entwurf westlichen Experten zur Begutachtung vorgelegt. Die Einschätzungen der Experten waren im wesentlichen positiv. Das Gutachten der französischen Juristen beispielsweise wurde in allen Republiks- und Gebietszeitungen veröffentlicht. Die neue Verfassung wurde zur „demokratischsten der ganzen Welt“ erklärt. Sie sieht in der Tat im Vergleich mit der Verfassung der Uzbekischen SSR demokratischer aus. In ihr werden nahezu alle Rechte und Freiheiten verkündet, die sich ein Mensch wünschen kann, der in einer demokratischen Gesellschaft lebt. Was fordert dann aber die demokratische Opposition von dem Regime? Was ist der Grund einer solch heftigen Konfrontation zwischen Regierung und Opposition? Darauf zu antworten, ist schwierig, wenn man darüber Menschen des Westens befragt, für die die Verfassung Widerspiegelung ihres gesellschaftlichen Lebens ist. Darauf zu antworten, ist nicht schwierig für die Menschen der ehemaligen Sowjetunion, in der die Verfassung niemals dem Willen des Volkes entsprach, sondern nur die Paradeuniform des totalitären Regimes war. Stellen sie sich vor, das Regime Uzbekistans kleidet sich in diese „Uniform“ nicht einmal anläßlich einer Parade. Im Lande herrscht juristische Schrankenlosigkeit (Chaos)[2]. Das Gesetz wird mit der Innenseite nach außen gekehrt, das gesellschaftliche Leben der Menschen hat sich gewendet. Alle Rechte und Freiheiten, die von der Verfassung der Republik Uzbekistan eingeräumt werden, werden vom Präsidenten der Republik Uzbekistan nicht zugelassen. Oder - alle von der Verfassung verbotenen Aktivitäten seitens der Herrschenden gegen die Bürger werden vom Präsidenten erlaubt. Die Verfassung gibt den Leuten das Recht auf eigene Darstellung ihres Willens mittels Demonstrationen, Meetings, Streiks usw., doch der Präsident der Republik hat das Recht, ihnen dieses Recht zu entziehen. Selbst eine Versammlung von zehn Personen ist verboten, wenn sie von Nicht-Regierungsstrukturen oder der Opposition organisiert worden ist. Die Verfassung verbietet die Zensur, aber sie lebt und handelt härter als je zuvor. Die Verfassung „garantiert“ die Freiheit des Wortes, doch heute gibt es in der Republik nicht ein einziges unabhängiges Druckerzeugnis, keinen einzigen unabhängigen Radio- oder Fernsehkanal. Die politische Opposition gibt ihre eigene Zeitung im Ausland heraus, wegen der Verbreitung dieser Zeitung in der Republik haben die Machthaber über 50 Personen verhaftet. Über die Propagandisten dieser Schrift verhandelt heute ein Gericht, sie werden der „Vorbereitung eines Staatsstreiches“ beschuldigt. Die Verfassung verspricht den Bürgern Gewissensfreiheit, freie Glaubensausübung, doch beinahe alle bekannten Führer der Gläubigen wurden ins Gefängnis gesperrt oder waren wegen Verfolgungen und des Terrors der Machthaber gezwungen, das Land zu verlassen. In unserer Gesellschaft ist der Mensch (was immer er auch ist, Bürger der Republik oder Ausländer) niemals vor der Gefahr sicher, von der Miliz verhaftet und eines beliebigen Vergehens beschuldigt zu werden. Ich werde einige Beispiele aus dem juristischen Leben unserer Republik anführen. Ich werde über das Verhältnis zur politischen Opposition sprechen, wo sich am deutlichsten die Willkür der Herrschenden widerspiegelt. Die Vollmachten dieser Organe sind die allerweitesten, wie zu Zeiten eines Ausnahmezustandes oder eines Krieges. Zum Beispiel, die Miliz kann zu einer beliebigen Tageszeit in Ihr Haus eindringen und darin eine Durchsuchung durchführen, ohne irgendeine Order dafür. Ein beliebiger gewöhnlicher Milizionär kann Sie auf der Straße anhalten, durchsuchen und Ihren Paß, Ihr Geld wegnehmen. Natürlich, er kann Ihnen den Paß nach „Untersuchung“ auf dem Revier zurückgeben, aber er wird dabei mit Sicherheit Ihr Geld „vergessen“ auszuhändigen. Wenn Sie versuchen, irgendwie zu protestieren, werden Sie in einer solchen Art und Weise angeschaut, daß Sie schnellstens von dort verschwinden werden, Gott dankend, daß Sie nicht verhaftet wurden. Der Staatsanwalt hat das Recht, einen Verdächtigten unbegrenzte Zeit festzuhalten. Für eine Verhaftung macht er sich nicht die Mühe einen Haftbefehl auszufertigen; es genügt ein Telefonanruf, damit die „Fährtensucher“ die verlangte Person ergreifen. Das Abhören von Telefongesprächen der Bürger ist eine allgemein übliche Angelegenheit. Diese Gespräche werden im Bedarfsfalle vor Gericht als Beweismittel verwendet. Ende vergangenen Jahres[3] wies der Präsident der Republik an, in Deutschland eine computergesteuerte Telefonüberwachungsanlage zu kaufen. In diesem Jahr wurde das System in Betrieb genommen und das Intimleben unseres Volkes verläuft unter der totalen Aufsicht des Regimes. Der Personalbestand des Nationalen Sicherheitsdienstes Uzbekistans („SNB“[4]) hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt. Das ehemalige KGB hatte keine Gebietsabteilungen. Der SNB nun besitzt sie. Die Tätigkeit dieser Organisation ist nicht nach außen gerichtet, wie im voraus festgelegt, sondern ausschließlich auf das Innere des Landes. Hier kämpft sie im wesentlichen mit der politischen Opposition, und nicht mit der organisierten Kriminalität, wie die SNB-Führer erklären. Die Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane (Miliz, SNB, Staatsanwaltschaft) sind die höchstbezahlten Bevölkerungsgruppen der Republik. Das Regime stützt sich ausschließlich auf sie und der Präsident scheut keine Ausgaben für sie.
Anklageerhebung Oppositionelle verhaftet man ohne irgendeine Anklage. Man faßt sie, wo immer es möglich ist - auf der Straße, zu Hause, bei der Ausbildung, auf Besuchen, im Kino usw. Damit sie verhaftet werden, müssen sie nicht unbedingt an irgendwelchen Aktivitäten mitgewirkt haben; es ist ausreichend, daß sie Mitglied einer Oppositionspartei sind. Ihnen wird auch nach einer Woche oder einem Monat keine Anklage zugestellt, und so lange sitzen sie in den Kellern des KGB oder MVD[5]. Jedoch werden sie täglich verhört, um irgendeinen Anklagegrund buchstäblich herausfischen zu können. Und wenn man letztendlich den benötigten Anschuldigungsgrund findet, so werden die Verhöre wie zuvor ohne einen Anwalt weitergehen. Es ist bemerkenswert, daß bevor sie irgend jemanden verhaften, die Machthaber oft nicht wissen, wessen sie den Verhafteten bezichtigen werden. Man erfüllt einen Befehl und ist gezwungen, im weiteren Verlauf, ex promtom, die Angelegenheit auszugestalten. Vor kurzem verhaftete die Miliz meinen jüngeren Bruder Raschid Bekshan. (Er wurde verhaftet, nur weil er der Bruder des Führers einer Oppositionspartei ist. Das Regime bestraft die gesamte Familie seiner Opponenten, Beispiele gibt es dafür genug.) Bei ihm versuchte man eine sofortige Anklageerhebung. Am Tag seiner Verhaftung, dem 11. Dezember diesen Jahres [1994 - RK], wurde im Fernsehen erklärt, daß man R. Bekshan mit einem Anti-Regierungsflugblatt in der Tasche aufgegriffen habe. Nach vier Tagen jedoch wurde er nach Hause geführt, wo er mit seiner Mutter wohnte und veranstaltete eine neue Durchsuchung, schob ihm Narkotika [Drogen - RK] unter und hatten ihn sofort wieder „ertappt“. Das heißt, sie haben nach einigem Überlegen die Gründe der Verhaftung zu ändern beschlossen, da das „Anti-Regierungflugblatt“ nach Politik roch, die Machthaber wollten unbedingt, daß die Anklage eine strafrechtliche [kriminelle] sei. Das „Auffinden“ von Drogen oder blanker Waffen ist das am meisten verbreitete Verfahren zum Fangen von Oppositionellen. Auf diese Weise wurde der bekannte Schriftsteller Mamadali Mahmud verhaftet; die Mitglieder der Partei „Erk“ Yussuf Rozimuratov, Gaipnazar Koschtschanov, der Dichtersänger Dadachon Hassan, mein Bruder, der Dichter Maksud Bekshan und viele andere Gleichgesinnte. Die Primitivität der Beschuldigungsgründe reicht mitunter bis zum Absurden. Im Sommer vergangenen Jahres [1993 - RK] wurde in Alma-Ata das Mitglied der Partei „Erk“ Yussuf Rozimuratov, der die Verbreitung der Parteizeitung leitete, von uzbekischen Geheimpolizisten festgenommen. Den Machthabern von Alma-Ata wurde erklärt, daß er kein Oppositioneller sei, sondern ein Mörder. Rozimuratov gelang es, den Geheimpolizisten zu entfliehen, doch gelang es denen, dort zwei andere die Verbreitung der Zeitung „Erk“ organisierende Personen festzunehmen - den ehemaligen Abgeordneten des Obersten Sovjets Uzbekistans, Murat Dshuraev sowie Erkin Aschurov. Sie wurden in die Keller des SNB am 18. Juni letzten Jahres verbracht [1993 - RK], eine Gerichtsverhandlung hat es bis heute nicht gegeben. Sie wurden des „Staatsstreichversuches“ beschuldigt und um ihnen diesen Unsinn zu beweisen, teilte man ihnen einfach noch drei weitere „Erk“-Leute zu, die gleichfalls an der Verbreitung der Zeitung „Erk“ beteiligt waren. 1992 wurden auf Grund der gleichen Anschuldigung der Sekretär der Partei „Erk“, Prof. Atanzar Arifov und das Parteimitglied Salavaj Umrzakov verurteilt. Unter dem Druck internationaler Organisationen wurden beide im November diesen Jahres wieder freigelassen.
Das Festhalten der Gefangenen Oppositionelle wirft man gewöhnlich in die Keller von SNB oder KGB, wo besonders gefährliche Verbrecher einsitzen - Mörder, Vertreter aus der Drogenszene usw. Es wird ihnen nicht gestattet, Verwandte und Freunde zu treffen, für sie werden keine Lebensmittel zur Weitergabe angenommen. Sie können Monate in Erwartung einer Gerichtsverhandlung sitzen, ohne zu wissen, wessen sie angeklagt werden.
Der Gerichtsprozeß Der Tag des Prozeßbeginns gegen Oppositionelle wird nicht vom Vorsitzenden des Gerichts oder des Gerichtskollegiums festgelegt, sondern von der Führung der Republik. Ein Gerichtsprozeß wird gestoppt oder wiederaufgenommen nach dem Ermessen eben dieser Führung. Eine Gerichtsverhandlung wird beispielsweise während des Besuches einer ausländischen Delegation im Land vertagt, um nach einigen Tagen, nach Abreise der Gäste, fortgesetzt zu werden. Während der Verhandlung kann der Richter die Sitzung plötzlich abbrechen, wenn im Gerichtssaal irgendein Journalist oder uneingeladener Unbekannter entdeckt wird. Die Sitzung kann erst nach der Neutralisierung dieser unerwünschten Personen fortgesetzt werden. Die Richter für Oppositionelle werden sorgfältig ausgewählt. Man findet sie unter denen, die sich der Korruption und Bestechlichkeit schuldig gemacht haben, die, wünschen sie, sich vor der Führung zu rechtfertigen, irgend eine riskante Sache übernehmen. Manchmal wählt man für solche Dinge auch einen, der keine Unterstützung „von oben“ genießt, damit die Verantwortung auf ihn allein zurückfällt, falls irgendwann einmal eine ungerechte Gerichtsentscheidung gerechtfertigt werden muß. Als beispielsweise die privatisierte Wohnung meines Bruders Maksud Bekshan konfisziert wurde, weinte die Richterin des Ulugbek-Bezirkes der Hauptstadt regelrecht, daß sie keinen Verwandten in der Leitung habe und ihr deshalb dieser Auftrag erteilt worden sei. [Frau] Hakimova fällte das Urteil über die Beschlagnahme deshalb, weil sie dazu beauftragt wurde und, wie sie sagte, sie im Falle einer Ablehnung von ihrer Arbeitsstelle vertrieben würde. Und meine Wohnung wurde ganz ohne meine Anwesenheit beschlagnahmt. Die Sachen wurden auf die Straße geworfen, die Kinder wurden in einen Lkw verfrachtet und weit fort an die Grenze nach Turkmenistan verschickt. Drei Tage nach all diesem wies man eine Familie von KGB-Leuten in die Wohnung ein.
Das Recht auf einen Anwalt Dieses Recht gibt es laut der Verfassung, aber die Bürger haben es nicht. Es ist nicht lange her, beim Prozeß gegen eine Gruppe von „Erk“-Aktivisten mit Muhammad Dshuraev an der Spitze bemerkte man, daß einer der Angeklagten in den Gerichtssaal ohne einen Rechtsanwalt geführt wurde. Es stellte sich heraus, daß er sechs Monate in SNB-Isolationshaft gesessen und niemals einen Anwalt zu Gesicht bekommen hatte. So war der Richter gezwungen, „sich zu schämen“ und stoppte für einige Zeit den Prozeß. Die örtlichen Anwälte fürchten sich in der Regel, einen Angeklagten der politischen Opposition zu verteidigen, da, im Falle einer ehrlichen [ehrenhaften] Verteidigung, der Rechtsanwalt selbst irgendeines Verbrechens bezichtigt werden kann. So geschah es zum Beispiel dem Anwalt Safar Bekshan, Mitglied der „Erk“-Partei, der zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Der angeklagte Schriftsteller Mamadali Mahmudov erbat die Verteidigung durch Anwälte aus Kazachstan, doch die Machthaber verboten ihm strengstens, „Verteidiger aus einem fremden Staat zu bestellen“. Ein zur Verteidigung des Mitglieds der „Birlik“-Bewegung Abdumannob Pulatov aus Moskau angereister Rechtsanwalt wurde äußerst grob aus der Republik ausgewiesen.
Rechtsanwälte im Gericht Anwälte für Oppositionelle werden im wesentlichen durch die Regierenden ernannt. Die Angelegenheit eines Mandanten wird ihm einige Tage vor der Verhandlung übergeben. Sollte er den Mut dafür haben und ein Treffen mit seinem Mandanten verlangen, darf er ihn vorher sehen. Er darf sogar mit ihm sprechen, allerdings in einem sehr streng von der Regierung vorgegebenen Rahmen. Der Anwalt eines Oppositionellen tritt niemals gegen die Anklage auf, sondern spricht nur „über mildernde Umstände“ des ohnehin schon bewiesenen Verbrechens.
Die Zeugen Obwohl dies lächerlich ist, doch auch die Zeugen werden ernannt. Zum Beispiel, irgend ein Dieb oder Händlerspitzbube, der in die Hände der Organe gefallen ist, kann besonders gut die Rolle des Zeugen spielen. Für diese Dienstleistung wird er von seiner Bestrafung befreit. Manchmal findet man Zeugen unter den Angeklagten, die „ehrlich bereuen“ nachdem sie verprügelt und von den Ermittlern bedroht [eingeschüchtert] wurden.
Das Recht, gewählt zu werden Laut Verfassung hat ein einmal verurteilter Bürger nicht das Recht, eine Kandidatur bei den Wahlen zu den Vertretungsorganen der Macht aufzustellen. Auch deshalb beeilte sich der Präsident über alle Oppositionsführer den Stab zu brechen, die im Volke bekannt sind und eine potentielle Gefahr für zukünftige Wahlen darstellen. Und, man muß sagen, der Präsident hat seinen Plan übererfüllt. Bei den Ende Dezember durchgeführten Parlamentswahlen wurden die Kandidaturen ausschließlich auf Grundlage einer Liste zugelassen, die der Präsident persönlich genehmigt hatte. Und es ist nicht überraschend, daß im Ergebnis der Wahlen 70% der Parlamentssitze die Leiter der staatlichen Administration erhielten - die Hokims [Hâkims] der Gebiete und Bezirke. Die Partei des Präsidenten selbst erhielt insgesamt 20% und eine andere „Puppen“-Partei - die Partei „Fortschritt der Heimat [Progress Rodiny]“- insgesamt 10%. Auf diese Weise vertritt das Parlament also nicht das Volk, sondern den Staat. Und da der Staat der Präsident ist, kann man das neue Parlament als das Parlament des Präsidenten bezeichnen.
Die Immunität des Abgeordneten Abgeordnete werden erst verhaftet, ins Gefängnis geworfen - und erst danach von ihrem Abgeordnetenmandat „abberufen“. So war es bei den Mitgliedern der Partei „Erk“, den Abgeordneten Samandar Kokanov, Nasrullo Saidov, Imam Fajzi. So ging es gar dem Berater des Präsidenten selbst, dem Abgeordneten Mawlo Umrzakov.
Die Mutmaßung [Präsumtion] der Unschuld Davon haben noch nicht einmal unsere Juristen gehört. Dieser Terminus ist noch nicht in Mode gekommen, so wie in anderen Republiken der ehemaligen Union. Es scheint, er wird auch nicht in Mode kommen, solange das gegenwärtige Regime an der Macht ist. Das schlimmste ist, daß die Leute bei uns wiederum irgendwie ein irrationales Leben zu führen begannen. Geht man die Straßen von Taschkent entlang, ist es unmöglich, auch nur ein einziges lächelndes Gesicht zu sehen. Diese totale Schwermut [Übellaunigkeit, Mißmut] kann man nicht nur mit wirtschaftlichen Problemen begründen. Der Mensch in unserer Gesellschaft beginnt sich, wie in den Romanen Franz Kafkas, unwillkürlich selbst als schuldig, als ein Verbrecher zu sehen; doch er erfährt niemals, woran gerade er schuldig ist und warum er sich vor irgendeiner unbekannten Bestrafung fürchten muß.
Gleichheit vor der Gesetzlosigkeit [Willkür] Diese fatale Angst verfolgt nicht nur die einfachen Leute, sondern auch die administrative Oberschicht, die sich den Leuten mit sorglosem [gemütsruhigem] und zufriedenem Leben präsentiert. Die Mitglieder der Regierung, die obersten Ränge der Rechtsschutzorgane, staatliche Berater fürchten, obwohl sie ihre Treue zum Präsidenten beteuern, den schwankenden [labilen] und treulosen Charakter des Chefs, glauben nicht an den morgigen Tag, leben in der ständigen Bereitschaft, gestürzt zu werden, so wie die ehemaligen Vizepräsidenten Sch. Mirsaidov und K. Radshabov oder die ehemaligen Minister U. Abdurazzakov und A. Karobaev und viele andere. Solche Prinzipienlosigkeit in der Personalpolitik fördert nur die Korruption und Bestechlichkeit, damit die ohnehin schwache Wirtschaft des Landes auszehrend. Leute, die nur in den Tag hinein leben, bemühen sich, immer mehr von dem Volksgut abzuzapfen und wollen keinerlei Verantwortung für den kommenden Tag übernehmen. Diese Situation macht die Macht des Präsidenten schwankend - verstärkt die Wahrscheinlichkeit seiner ungesetzlichen voluntaristischen Ablösung. Das heißt, die Willkür, die der Präsident im Lande sanktionierte, wird sich in einen Bumerang verwandeln. Die Chancen vor der Willkür zu überleben, sind für alle gleich: sowohl für den Präsidenten, der von einer dichten Bewachung umgeben ist, wie für den wehrlosen Studenten, der eine verbotene Zeitung liest. Der Student, der eine solche Zeitung liest, riskiert, ins Gefängnis geworfen zu werden; und der Präsident, der sein Volk terrorisiert, riskiert, zu beliebiger Stunde gestürzt zu werden. Und in beiden Fällen wird das Gesetz weder den einen noch den anderen verteidigen. Weil man in diesem Land nicht gelernt hat, es zu achten.
[Vollständige wörtliche Übersetzung eines Ende 1994, Anfang 1995 verbreiteten Aufsatzes (Ravensvto pered bezzakoniem). Aus dem Russischen von Ralph Kühn]
Veröffentlicht in: „Mahfel – Nachrichten aus West- und Mittelasien“, Berlin, Nr. 50 [1/1996]. [1] Muhammad Solih ist der Vorsitzende der verbotenen Partei Erk (Freiheit). Er lebt im Exil. [2] Russ.: „bespredel“ [3] Gemeint ist wohl 1993 [4] Russische Abkürzung [im Manuskript] für den Nationalen Sicherheitsdienst: „Slushba Nacional’noj Bezopasnosti“ [5] „Ministerstvo Vnutrennich Del“ = Innenministerium; die Abkürzung ist wieder eine russische.
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